"Waldmärchen" 2001

Es lebte eine alte Frau in einem Wald. Sie mußte dort wohl schon lange leben - wußte sie doch selbst nicht mehr warum und wie lange sie schon hier war. 

Sie hatte die Schönheit eines Mädchens, obwohl  ihr Äußeres  für einen fremden Betrachter den Bäumen glich - ihre Haare waren wie das Moos, das die Erde bedeckte und sie sprach mit den Tieren des Waldes und mit den Pflanzen in der ihnen eigenen Sprache. 

Wenn sie sich schlafen legte, so legte sie sich unter einen Baum im Wald, der sie zur Nacht mit seinen Blättern bedeckte und morgens weckten sie die Vögel, die sich an ihre Wangen schmiegten und ihr zauberhafte Melodien sangen. Sie trank mit dem Wild gemeinsam von den Quellen, die sich aus dem Boden ergossen und die Bienen flößten ihr den süßen Honig ein, wenn sie saß um sich auszuruhen. Sie konnte den Wald  als Ganzes fühlen und wenn ein Tier erkrankte, so war sie ihm mit heilenden Kräutern und Worten der Linderung zu Hilfe - für jedes Leid kannte sie eine Frucht oder ein wildes Kraut und wenn sie so innerlich das Regen um sich spürte, so war es als strich ein sanfter Wind durch den Wald. 
Ihre Gedanken waren wie der Fluß, der den Wald durchquerte und wenn sie weinte so trat der Fluß über seine Ufer und wässerte was ihn umgab und wenn sie lachte, so tanzten die Sonnenstrahlen über seine Wellen und leuchteten nicht nur durch das Blätterdach in den Wald.

Doch es gab einen Baum in dem Wald, der war schwarz wie der Tod selbst.
Kein Tier traute sich in seine Nähe und kein Grün wuchs in seinem Umkreis. Viele Äste hatte er verloren und seine Rinde war zerborsten und trocken wie verbranntes Holz und er schien für die Ewigkeit zu stehen, als hätte er den Zeitpunkt seiner Auflösung in das ihn Umgebende verpaßt. 

Nur weil er schon so lange stand wußte die Frau, daß noch etwas wie Leben in ihm sein mußte und sie wußte auch : Er war schon länger hier als sie selbst - viel länger. Oft hatte sie bei ihm gestanden, schweigend und eine innere Traurigkeit fühlend, nicht wissend warum, ihn betrachtet als wäre er ein Traum vor ihrer Geburt. Er war ihr fremd und angsteinflößend und zugleich strahlte seine Ruhe ein Vertrauen aus, als fühlte er sie sich in seiner endlosen Dunkelheit verlieren, nur sie konnte ihn nicht fühlen, wie sie den Rest des Waldes erfüllte...
Sie konnte nicht mit ihm sprechen wie mit allem anderen, das sie umgab - obwohl
sie oft zu ihm sprach, konnte sie keine Antwort hören.

"Warum kann ich Dich nicht fühlen, wie ich alles andere fühle?" 
fragte sie und der Baum antwortete
 "Ich fühle Dich, Du bist mein Leben." 
sie sagte viel später 
"Warum antwortest Du mir nicht ?" 
und sie strich seine Rinde mit dem Wasser des Flusses ein und dachte 
"Vielleicht hat er keine Wurzeln." 
 
 

und sie kam am nächsten Tag wieder und fragte erneut : 
"Warum kann ich Dich nicht fühlen, wie ich alles andere fühle ?" 
und der Baum antwortete 
"Ich bin der letzte meiner Art. Ich habe alle meine Tränen geweint." 
sie sagte viel später 
"Warum antwortest Du mir nicht ?" 
und sie dachte :
"Vielleicht hat ihn einst ein Feuer verbrannt." 
und sie bestrich seinen Stamm mit dem Wasser des Flusses, um ihn zu kühlen. 

Am dritten Tag kam sie wieder und fragte erneut :
 "Warum kann ich Dich nicht fühlen, wie ich alles andere fühle ?" 
und der Baum antwortete 
"Ich war einst wie Du und war den Vögeln ihr Nest." 
sie sagte viel später 
"Warum antwortest Du mir nicht ?" 
und sie dachte :
"Vielleicht vermißt er die Sonne, da er keine Blätter hat." 
und sie bestrich seine Äste mit dem Wasser des Flusses und lächelte dabei, weil sie wußte, daß auch diese Äste vor langer Zeit einmal Blätter getragen haben mußten.

Sieben Jahre kam sie nun nicht dazu, den Baum zu besuchen und sie hatte ihn 
schon ganz vergessen, denn eine Fröhlichkeit, die sie noch nicht kannte, war in ihrem Herzen und es waren die schönsten sieben Jahre, denn alles blühte in einer Pracht, die sie zuvor noch nicht gesehen hatte, und sie hatte zudem allerhand damit zu tun, all die neuen Pflanzen kennenzulernen, die da plötzlich wuchsen.
Alles war anders und sie fragte gar nicht warum, denn es erfüllte sie so sehr,
daß ihr keine Fragen in den Sinn kamen ...

Auf einem ihrer Streifzüge durch den Wald entdeckte sie plötzlich eine Lichtung, die sie noch nie zuvor gesehen hatte - mit dem prächtigsten Baum in der Mitte. Und sie wunderte sich, warum sie ihn nicht kannte, diesen schönen Baum,  kannte sie doch jeden Grashalm in ihrem Wald. In seinen Ästen saßen so viele Vögel, daß sie nicht zu zählen waren und sie bauten ihre Nester eins neben dem anderen, als wäre sieben Jahre lang Frühling gewesen. Sein Stamm war stark und die Tiere schmiegten sich an ihn und die Frau fühlte die Liebe, die alles erfüllte, das den Baum umgab und sie ging auf ihn zu und berührte seinen Stamm mit ihrer Hand
 
 
 

ein Tautropfen fiel von einem der Blätter ab und rann über ihre Finger ...
 

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